Wissenschaftliche Karrieren und die Verantwortung für Kinder
Interdisziplinäre Studie von TU Wien und Frauennetzwerk FemChem untersucht Erfahrungen von Eltern mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und bezieht auch WissenschaftlerInnen ohne Kinder ein.
(red/rucz) Die Fakultät für Technische Chemie und das Frauennetzwerk der Fakultät FemChem initiierte gemeinsam mit dem Vize-Rektorat für Personal und Gender der TU Wien die Studie PARENT (PArents in REsearch aNd Technology). Zwischen 2022 und 2023 untersuchten die Gender-Expertinnen Marita Haas (Ward Howell International) und Bettina Stadler (FORBA und Universität Graz) die Frage, ob und wie sich Elternschaft auf eine wissenschaftliche Karriere speziell im Fachbereich Chemie auswirkt.
„PARENT“ ist eine Folgestudie zur Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses an der Fakultät aus dem Jahr 2019. Die damalige Kernfrage lautete: Warum schlägt sich die Anzahl der Frauen im Studium nicht auf die Anzahl der Frauen in Spitzenpositionen nieder.
Systemische Hürden oder Fehler identifizieren
Frauen sind in der Wissenschaft weltweit unterrepräsentiert. Je höher die Karriereleiter, umso geringer wird der Frauenanteil und das gilt auch in Bereichen, wo mehr Frauen als Männer studieren. Daten deuten auf zu hohe Hürden für Frauen und nicht an einem begrenzten Pool an fähigen Frauen. „Als Fakultät wollen wir systemische Hürden oder Fehler identifizieren, bestmöglich bereinigen und so ein Umfeld schaffen, wo sich KollegInnen über alle Karrierestufen hinweg gleichermaßen entwickeln können“, erläutert Marko Mihovilovic, Uni-Dekan.
„Unser Ziel sind attraktive Rahmenbedingungen, um keine Talente zu verlieren und neue Potentiale zu erschließen. Deshalb war es wichtig, nach den Erkenntnissen der vorangegangenen Studie nunmehr das Thema Elternschaft als relevanten Faktor zu untersuchen“, so Mihovilovic.
Viele Faktoren verursachen Mangel an Frauen in MINT-Berufen
43 Prozent der Mütter verlassen MINT-Berufe in den 4-7 Jahren nach der Geburt des ersten Kindes. Damit sind Frauen unverhältnismäßig stark betroffen, denn bei Männern trifft das nur auf 23 Prozent zu. „Das Karrieremuster unserer Gesellschaft passe nicht zu Menschen mit Betreuungspflichten. Die meritokratische Vorstellung des idealen Wissenschaftlers basiere auf der Figur eines Mannes ohne oder nur mit geringen Betreuungspflichten“, so die Erkenntnisse.
Und dies führe zur sogenannten „homo-sozialen" Reproduktion: Junge WissenschaftlerInnen, die ihrem Vorgänger ähneln, sind eher bereit, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen als solche, die ein anderes Lebenskonzept oder Karrieremuster haben. Darüber hinaus besteht eine große Abhängigkeit von Vorgesetzten, um in der wissenschaftlichen Laufbahn erfolgreich zu sein und von der Anzahl und Wirkung der Veröffentlichungen, die oft der wichtigste messbare Faktor zur Bestimmung von „Exzellenz" sind.
Inklusivität und die Auswirkungen auf wissenschaftlichen Fortschritt
Grundsätzlich sollte „PARENT“ die Erfahrungen von Eltern mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie näher untersuchen. Einbezogen wurden auch Erfahrungen und Erwartungen von WissenschafterInnen die keine Kinder haben. Auf Grundlage einer fundierten Analyse wurden dabei auch Vorschläge für Maßnahmen zur Verbesserung der Situation für Eltern und insbesondere für Frauen identifiziert. Da sich die Vorschläge im Rahmen eines Organisationsentwicklungskonzeptes an Personen mit Führungsaufgaben richten, wurden die Maßnahmen auch mit Führungskräften diskutiert.
Ziel war es, das Bewusstsein für das Thema innerhalb der Organisation zu schärfen. „Inklusivität hat weitreichende Auswirkungen auf den wissenschaftlichen Fortschritt, die wirtschaftliche Entwicklung, das gesellschaftliche Wohlergehen und den Fortschritt des menschlichen Wissens“, so die Studien-Macher. Operativ wurden zwei Fokusgruppen organisiert und mit diesen Ergebnissen wurde ein Fragebogen für die spezielle Situation an der Fakultät für Technische Chemie der TU Wien entwickelt. Dann folgten Workshops mit Vorgesetzten, um auch hier konkrete Lösungsansätze zu erarbeiten. Zudem wurde eine Good-Practice-Recherche durchgeführt, die einen Vergleich mit anderen Forschungseinrichtungen ermöglichte.
Schuldgefühle und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie
Untersucht wurden auch die organisatorischen Strukturen und Prozesse, die zu einer pessimistischen Einschätzung von Frauen und zur geringen Anzahl von Frauenkarrieren führen. „Generell werden in unserer Gesellschaft Männer beglückwünscht, wenn sie sich um die Kinder kümmern, während es bei Frauen als selbstverständlich angesehen wird“, so ein weiterer Befund im Rahmen der Studie.
Männer und Frauen sind mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert, auch weil sie ihre Kinder in unterschiedlichen Entwicklungsstadien betreuen. Zumeist sind Frauen in Karenz, wenn die Kinder noch sehr abhängig sind und das beschränkt dann die Möglichkeit hier wissenschaftlich weiterzuarbeiten. Parallel nehmen immer mehr Männer verschiedene Formen des Elternurlaubs in Anspruch, auch bedingt durch einen Generationswechsel. Männer wie Frauen betonen, wie schwierig die hohen wissenschaftlichen Leistungsanforderungen sind, wenn man kleine Kinder hat.
Umdenken bei Beurteilungskriterien
Final kommen die Studienautorinnen zum Schluss, dass „Frauen sich eher schuldig fühlen, wenn sie sich weder der wissenschaftlichen Arbeit noch der Mutterschaft zu 100 Prozent widmen können“ und Männer aufgrund der unterschiedlichen gesellschaftlichen Wahrnehmung „positiver eingestellt sind.“ Ein Grund dafür sei, „weil Männer in der Regel die Entscheidungen treffen“ und das zeige auch die Studie. Was Männer und Frauen eint, sind Sorgen zur Arbeitsstabilität. Die Studienautorinnen bemängeln hier die Transparenz. Die Frage nach den „richtigen Schritten“ für eine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere „ist kaum zu beantworten.“
Die Studienautorinnen plädieren nun für ein Überdenken der Bewertungskriterien für den akademischen Karriereweg. Der „unsichtbaren Arbeit“ mit Lehre, Mentoring und Administration soll mehr Wert beigemessen werden. Darüber hinaus soll die Bewertung an den tatsächlichen Zeitaufwand für eine wissenschaftliche Karriere, beispielsweise während einer Arbeitsverkürzung, angepasst werden. Teilzeitstellen sollten bei der Berechnung eines „wissenschaftlichen Alters" Berücksichtigung finden.
Finale Erkenntnisse und Forderungen und Handlungsoptionen
Marita Haas und Bettina Stadler fordern außerdem ein Überdenken der Aufgabenverteilung, mehr Unterstützung und die Förderung der Zusammenarbeit und des Wissenstransfers. Zusätzlicher Lösungsansatz sind erleichterte Möglichkeiten, um während Schwangerschaft und Stillzeit wissenschaftliche Ergebnisse zu erzielen, beispielsweise durch eigene Schwangerschaftslabors.
"FemChem wurde gegründet, um die spezifischen Herausforderungen von Frauen in der Wissenschaft zu identifizieren, damit sie gemeinsam reduziert oder eliminiert werden können. Die Studienergebnisse zeigen konkrete Handlungsfelder auf, wo wir gemeinsam Lösungen entwickeln werden“, unterstreicht Bettina Mihalyi-Schneider, Vorsitzende von FemChem.