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28. März 2024

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Die Kehrseite der digitalen Revolution

Die Kehrseite der digitalen RevolutionIngrid Malina

„Was die Leute zur CD gebracht hat, war nicht ausschließlich der Klang, sondern die Bequemlichkeit des Hinterns auf dem Sofa“, behauptet Medienexperte Karl M. Slavik. Doch ist der digitale Rubikon erst einmal überschritten, gibt es keinen Weg mehr zurück.

Die audiovisuelle Welt wird durch Digitalisierung immer komplexer, die Halbwertszeit neuer Technologien immer kürzer. Während fotochemischer Film seit mehr als 130 Jahren und analoge Schallplatten seit gut 120 Jahren in Verwendung sind, ändern sich digitale Audio- und Video­formate beinahe im Halbjahrestakt. Selbst Fachleuten gelingt es oft nicht mehr, die Marktübersicht zu bewahren und die Eigenschaften neuer Technologien im Kontext der Folgen zu beurteilen.
Die Nachteile digitaler Verfahren werden dabei nicht selten unterschätzt. Nachdem die Haltbarkeit digitaler Speichermedien begrenzt ist – optische Speichermedien und Harddisks etwa geben oft schon nach wenigen Jahren den Geist auf – muss Digitales ständig gesichert und umkopiert werden, um Kollateralschäden zu vermeiden. Damit steigen der Energie- und Rohstoffbedarf sowie der Arbeitsaufwand signifikant an – und in Folge die Kosten. Mithilfe des Datenreduktionsverfahrens MP3 passen zwar 20.000 Songs auf einen iPod, doch gleichzeitig verlernen wir durch zu geringe Datenraten das Hören. Wissenschaftler beschäftigen sich bereits seit Jahren damit. Ihre Ergebnisse sind ernüchternd, vor allem für Hifi-Freunde. Experten wünschen sich, dass die Konsumenten wieder hören lernen.
Karl M. Slavik, seit 1981 europaweit in Studios und Sendeanstalten tätig, Mitglied der Audio Engineering Society (AES) und der Österreichischen Ton- und Musikgestaltervereinigung (ÖTMV), Gründer und Inhaber von Artecast, zertifizierter Consulting- und Trainingspartner von Dolby Laboratories, stellt ernüchternd fest: „Wir bedienen uns überraschend oft digitaler Sackgassentechnologien.“
Warum? Profis und Heimanwender sind heute sehr viel mehr gefordert, sich vorab zu überlegen, was mit ihrem Material geschehen soll. Sollen Produktionen „für die Ewigkeit“ und für alle möglichen Aufführungszwecke und Wiedergabearten geeignet sein oder nur kurzfristig in einem bestimmten Medium Anwendung finden, zum Beispiel als Videoclip im Internet?

Digital Divide
„Wenn man sich für die Digitalisierung von Inhalten entscheidet, wagt man einen nicht reversiblen Schritt. Sobald ich mich für digital entscheide, muss mir klar sein, dass es einen unvermeidlichen Verlust von Information gibt“, so Slavik, Autor und Co-Autor mehrerer Bücher, Dozent am Institut für Publizistik der Universität Wien und an der ARD-ZDF-Medienakademie. „Hält man diese Verluste sehr klein, ergibt sich eine sehr hohe Qualität, die keine Abnützung kennt. „Der Begriff ‚Digital Divide‘ beschreibt den Scheideweg, den wir mit dem Umstieg von analog auf digital betreten. Es ändern sich die Informationsdarstellung und der Workflow, es ändern sich der Gebrauch, die Möglichkeiten, der Umgang mit den Medien.“
John Naisbitt behauptete, dass mit dem Einführen der digitalen Fotografie ein massiver Gedächtnisverlust einer ganzen Generation einhergehe. Analoge Fotos, die wir heute von unseren Großeltern im Schuhkarton finden, wird es von der digitalen Generation nicht mehr geben. Weil ein Großteil dieser Fotos bei Festplattencrashs verloren geht, auf Speicherkarten überschrieben wird, CDs oder DVDs unlesbar werden.
Die Digitalisierung hat weitreichende Konsequenzen. Die Seh- und Hörgewohnheiten haben sich verändert. Jede Datenreduktion verwendet, wenn das Ergebnis gut klingen oder gut ausschauen soll, wahrnehmungsbasierte Kodierung, sogenanntes „Perceptual Coding“. Das bedeutet, dass man die Fähigkeiten des Auges und des Gehörs als Grundlage für die Funktion der Datenreduktion nimmt.

Datenraten für Erwachsene
Beim menschlichen Gehör gibt es einen Verdeckungs­effekt: Laute Signale bestimmter Frequenzen verdecken andere, leisere Signale. Warum also die verdeckten Signale codieren und speichern, wenn sie angeblich ohnedies niemand hört? Hier lässt sich doch Datenrate einsparen. Die Wahrnehmung dieser Signale hängt stark von der Wiedergabelautstärke und den Hörbedingungen ab. Wenn man leise abhört, hört man diese fehlenden Details vermutlich nicht. Tut man dies lauter, werden die fehlenden Details aufgrund des nicht linearen Verhaltens unseres Gehörs sofort störend merkbar. Es fehlt einfach etwas. Junge Leute laden sich im Internet Musik als MP3 mit 96 oder 128 Kilobit pro Sekunde herunter. Das kann im Einzelfall noch ganz vernünftig klingen, entspricht aber nicht mehr dem, was Musiker und Toningenieur bei der Aufnahme beabsichtigt haben. Wenn man Musik in hoher Qualität hören möchte, sollte man MP3s mit mindestens 256 oder 320 kbit/s verwenden oder auf verlustlose Datenkompression umsteigen. Das sind dann „Datenraten für Erwachsene“. Nur damit ist es möglich, eine akustisch hochwertige Wiedergabe zu erhalten, die auch in 20 Jahren noch Freude macht.

Economy Ausgabe 83-04-2010, 30.04.2010